So kann der Tod eines Kindes sich anfühlen


Wenn es regnet,

halte ich den Schirm übers Grab,

wenn die Sonne knallt,

werfe ich Schatten,

doch es ist alles vergebens.

Ich kann mein Kind nicht mehr schützen.

Gisela Hinsberger

Und dann liegt mein Kind in der Erde. Nie wieder, denke ich die ganze Zeit. Nie wieder. Ich gehe ständig zum Friedhof, und jedes Mal, bevor ich um die Ecke zu den Kindergräbern biege, weiß ich nicht, ob es das Grab wirklich gibt. Wenn es regnet, halte ich den Schirm übers Grab, wenn die Sonne knallt, werfe ich Schatten, doch es ist alles vergebens. Ich kann mein Kind nicht mehr schützen. Es ist ein Schock, dass es die Nachbarskatze noch gibt, den schwarzen BMW von gegenüber und die Neonreklame am Matratzengeschäft. Matratzen supergünstig.

 

Im Zug sitze ich entgegen der Fahrtrichtung. Vor dem grauen Himmel hebt und senkt sich eine schwarze Leitung, die zurückgelassene Landschaft dahinter verschwimmt zu einer flimmernden Linie. Ich denke: Wenn mein Leben eine lange Linie ist, ist Sofies Leben nur ein winziger Strich darauf, und dieser Strich gleitet unaufhaltsam weiter weg. Ich schließe die Augen. Der Gedanke ist unerträglich.

 

Ein Meter Kindergrab, deine Kleider, deine Bücher – grausam mager, was die Welt mir an Heimat noch bietet. Unter erbarmungslos blauen Himmeln stehe ich an Gräbern und lerne die Toten kennen. Bald kenne ich andere tote Kinder, manche leben in meiner Vorstellung, ich sehe sie mit Schubkarren unter dem Weihnachtsbaum stehen. Liebe ist stärker als der Tod, sagen die Leute, geschäftig die Gießkannen schwenkend. Ich weiche ihrem Blick aus, denn der Tod ist gewaltig, und mein Liebe so schrecklich abstrakt.

 

Die Zukunft wird zu einer Last aus Zeit, und ich packe die Vergangenheit und klammere mich fest. Doch Erinnerung ist Abglanz, und dein ewig starres Lächeln kommt mir bald wie eine Fratze vor. Verbissen kämpfe ich gegen das Vergessen, jeden Happen Erinnerung will ich ihm entreißen. Ich forsche, frage, suche, wühle, sammle, laufe, schreibe – bis ich es endlich aufgeben kann.

 

Im Herbst natürlich, im Sommer hätte ich nie aufgeben können, aber an einem Oktoberabend, als die letzten Sonnenstrahlen dein Grab abtasten, setze ich mich auf die Bank und hebe die Arme. Geh, ich kann dich nicht halten, schon sehe ich dich nicht mehr lächeln, schon ist mir entfallen, wie dünn deine Arme sich angefühlt haben. Die Erinnerung wird weiter verschwimmen, es wird kaum noch jemand deinen Namen aussprechen, es werden keine Leute mehr zu deinem Grab gehen, du wirst deinen Platz in der Welt verlieren, es gibt so wenig Neues über die Toten zu sagen.

 

Die Gewissheit, dass etwas bleibt, muss schon länger da sein, ich habe nicht gespürt, wie sie gewachsen ist, doch plötzlich weiß ich, dass ich dich finden werde, manchmal, wenn ich hinabsteige und die Tür zu jener ortlosen Kammer aufstoße. In ihrer schattigen Stille werde ich zu Hause sein, aber auch unter der Esche und am See im Spätsommerlicht.

 

 

(Auszug aus „Weil es dich gibt. Aufzeichnungen über das Leben mit meinem behinderten Kind“)